MAL WAS ANDERES
(Beitrag von Wolfgang Stieler)
Aikido ohne Matten, mit wenig Platz – und vor allem ohne Partner zu üben, ist ungewohnt und schwierig. Aber ich mache das trotzdem. Und ich denke, es ist mehr als ein Notbehelf: Es ist auch eine Chance.
Warum? Nehmen wir den Bundeslehrgang mit Martin Glutsch am 8. und 19. Januar in Hannover. Ich weiß, das erscheint im Rückblick schon schrecklich lange her. Damals war die Welt noch in Ordnung. Aber das ist nicht der Punkt.
Eine der Übungen, relativ zu Anfang, war ein Irimi Nage gegen Shomen Uchi. Üblicherweise nehmen wir diesen Angriff auf, indem wir den Arm hochnehmen und mit dem vorderen Fuß einen Gleitschritt nach vorne machen – leicht aus der Linie, so dass der Schlag an unserem mit Te Katana augerichteten erhobenen Arm abgleitet. Nage steht dann etwa auf Höhe der Schulter von Uke – gut und sicher aus dem Gefahrenbereich. Dann – ihr werdet euch erinnern – folgt ein Sabaki in den Rücken des Partners, der Kopf wird zur Schulter geführt, und so weiter.
Jetzt sollten wir das so ähnlich machen, aber ein wenig anders. Denn nun wird der hintere Fuß zuerst nach vorne gesetzt, neben den Angreifer. Dann folgt eine Drehung auf den Fußballen. Erst jetzt wird der vordere Fuß nach hinten genommen und dabei der Kopf von Uke an die Schulter geführt. Kleine Änderung, fühlt sich aber ganz anders an – und hat mehr Drive.
Der Unterschied hat mich erstmal verwirrt. Ist nicht wie immer. Dann kam mir Yoda in den Sinn. Ja, der kleine, grüne Kerl aus Star Wars, dieser Prototyp eines weisen Meisters, der sagt: „Nicht versuchen. Machen!“
Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich.
Sie ist wahr, weil halbherzige Versuche meist nur zu einem Punkt führen: Zum Abbruch. Sie ist falsch, weil: Menschen sind zum Versuchen gemacht. Das ist sozusagen ganz tief ins menschliche Betriebssystem eingeschrieben. Wie versuchen ständig Sinn in das uns umgebende Chaos zu bringen. Wir stellen uns ständig vor, was passieren wird, wenn wir dieses und jenes machen würden. Von den Dutzenden Simulationen, die beinahe zu jedem Zeitpunkt in unserem Kopf ablaufen, wird eine ausgewählt, die wir dann in die Tat umsetzen. Das ganze spielt sich weit unterhalb der Bewusstseinsebene ab. Das merken wir nicht mal. Und wenn diese Tat, die Aktion, nicht so läuft, wie wir uns das vorgestellt haben, lernen wir. Wir lernen, dass wir etwas anders machen müssen.
Wenn unsere unbewusste Vorstellung richtig war, bleibt dieser Reiz, etwas neues zu lernen aus.
Was hat das mit Aikido in Corona-Zeiten zu tun? Na ja, in dem Moment, in dem wir anders üben als bisher, ist das eine Chance, etwas Neues zu lernen. Menschen sind bequeme Wesen, die sich gerne mit der erstbesten Lösung zufrieden geben. Anders zu üben bedeutet, etwas Neues auszuprobieren. Ich glaube, dass ist es, was die Japaner mit diesem Shoshin meinen – dem „Anfängergeist“. Immer so zu üben, als würde man etws zum allerersten mal machen. Damit ist nicht gemeint, alles zu vergessen, was wir bereits gelernt haben. Sondern sich die Neugier und Offenheit dafür zu erhalten, dass die Dinge auch ganz anders funktionieren könnten, als wir gewohnt sind.