Warum sollten wir mit Waffen trainieren?

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zog sich der Begründer des Aikido nach Iwama zurück, wo er aber weiterhin Aikido unterrichtete. Hauptsächlich hier entwickelte er Aiki-Ken und Aiki-Jo, den Gebrauch von Schwert und Stock für das Aikido-Training. Sein wichtigster Schüler in Iwama war Morihiro Saito, der Aiki-Ken und Aiki-Jo systematisch unterrichtete, während es in den meisten anderen Aikido-Gruppen (z.B. im Honbu-Dojo in Tokyo) nur am Rande unterrichtet wurde. Sensei Hoa Newens ist ein direkter Schüler von Morihiro Saito, war als Uchi-Deshi in Iwama und leitet ein Dojo in Kalifornien.
Am Ende dieses Artikels findet ihr ein Glossar, da im Iwama-Stil (eigentlich ist das Iwama-ryu kein Stil: Iwama-dojos sind reguläre Mitglieder des Aikikai) manche Begriffe etabliert sind, die im DAB nur selten vorkommen.
von Hoa Newens
Übersetzt von Stefan Schröder mit freundlicher Erlaubnis des Autors

Ohne Frage ist das Training mit Waffen für das Aikido ausgesprochen wichtig. Man muss nur einmal einen Blick auf all die Bilder von O-Sensei werfen, auf denen er ein Bokken oder einen Jo in der Hand hält, um einzusehen, dass diese einen wichtigen Teil seines Training darstellten. Die praktische Frage lautet nun also nicht, ob, sondern wieviel man mit Waffen trainieren sollte. Wie viele Stunden pro Woche sollte man dem Bukiwaza widmen, anstelle des Taijutsu.

Was ist Bukiwaza?

Ich möchte zunächst die Begriffe klären. Im Aikido bezeichnet „Taijutsu“ die „Körpertechniken“, das heisst die Techniken ohne Waffen. „Bukiwaza“ hingegen bezeichnet das Training mit Waffen, also zum Beispiel dem Bokken (Holzschwert) oder dem Jo (Holzstab). In diesem Artikel zählen wir die Techniken zur Waffenentnahme, „Bukidori“, zum Taijutsu.

Auch wenn O-Sensei in dem erhaltenen Film- und Fotomaterial überaus häufig mit Bokken oder Jo zu sehen ist, sticht nur sein Schüler Saito Morihiro-Shihan als Lehrer des Aiki-Ken und Aiki-Jo hervor. Er war 23 Jahre lang O-Senseis Schüler in Iwama. Saito-Shihan hat das Bukiwaza in sechs Kategorien eingeteilt:

  1. Tanren: Das Schmieden des Geistes durch Übungen wie Tanren-Uchi, also das wiederholte Schlagen gegen ein hartes Objekt mit dem Suburito. Ähnliche Übungen gibt es auch für den Jo.
  2. Suburi: Einfache Bewegungen mit dem Ken (7 Ken-Suburi) oder dem Jo (20 Jo-Suburi).
  3. Kata: Bewegungsabfolgen mit dem Jo (13-Schritt Jo-Kata oder 31-Schritt Jo-Kata).
  4. Awase: Partnerübungen mit einfachen Bewegungen mit Ken oder Jo.
  5. Kumi: Partnerübungen mit komplexen Bewegungen mit dem Ken (Kumitachi) oder dem Jo (Kumijo) oder beidem (Kentaijo).
  6. Henka oder Riai: Variationen von den obigen Punkten und Zusammenhänge zwischen Bukiwaza und Taijutsu.

An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es im japanischen Budo (den japanischen Kampfkünsten) verwandte Künste gibt, die sich mit dem Ken (z.B. Iaido) oder dem Jo (z.B. Jodo) befassen. Doch diese unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht erheblich vom Aiki-Ken und Aiki-Jo. Es soll hier ausreichen darauf hinzuweisen, dass der wichtigste Unterschied darin besteht, dass die Waffen im Aiki-Ken und Aiki-Jo den Körper unterstützen sollen, wohingegen in den anderen Künsten die Waffe das Wichtigste ist, und die BenutzerIn der Waffe sich an die Waffe anpassen müssen, um die Effektivität ihrer Techniken zu maximieren.

Aiki-Ken und Aiki-Jo wurden geschaffen, um das Taijutsu zu unterstützen; sie sind nicht als separate Künste gedacht. Daher sollten sie auch nicht mit anderen Systemen verglichen werden, die mit Schwert oder Stab üben.

Saito-Shihan betrachtete Aiki-Ken und Aiki-Jo als fundamentalen Bestandteil des Aikido-Trainings und schuf sogar ein eigenes Zertifizierungsprogramm, um sicherzustellen, dass diese Komponenten des Bukiwaza geschützt würden. Um festzustellen, wie oft wir nun Bukiwaza üben sollten, müssen wir zunächst betrachten, wie es sich auf unser Aikido auswirkt.

Warum Bukiwaza?

Es gibt sechs wichtige Aspekte des Bukiwaza-Trainings, die unser Taijutsu verbessern und so zu einem integralen Teil unseres Aikido-Trainings machen.

Es verbessert unseren Stand. Aiki-Ken wird im Stand Hanmi geübt. Aiki-Jo basiert auf dem Stand Hitoemi. Diese beiden Arten zu Stehen sind Grundlage für unsere Aikido-Techniken. Die wiederholte Übung von Aiki-Ken und Aiki-Jo verstärkt den Stand und fordert den stabilen Stand ständig heraus. Ohne einen stabilen Stand funktionieren die Jo- oder Ken-Techniken nicht. Im Taijutsu fallen diese Fehler nicht so schnell auf.

Es erhöht die Präzision unserer Bewegungen. Wenn wir mit Ken oder Jo trainieren, dann betrachten wir die Waffen als Erweiterungen unseres Körpers, wodurch der Effekt unserer Hüftbewegungen besser sichtbar wird.
Fehler und Ungenauigkeiten sind leichter zu erkennen und zu beheben. Da Fehler leichter zu korrigieren sind, können wir unsere Präzision verbessern.

Es verbessert die Fähigkeit, Ki anzuwenden: Der Gebrauch von Ken und Jo erfordert, dass unentwegt unsere Konzentration und unsere Energie (Ki) durch die Waffe ausgesendet werden. Entweder schlagen wir mit dem Ken nach unten oder wir stoßen den Jo vorwärts. Die fortwährende Mühe, mit der wir Energie aussenden, schult die gleiche Anwendung von Ki bei Techniken ohne Waffen.

Es verstärkt die Vereinigung und Verbindung von Energien. Um Aiki-Ken und Aiki-Jo korrekt anzuwenden, müssen wir die Ausrichtung der Waffe relativ zu unserem Körperzentrum ständig überprüfen; ebenso die Ausrichtung unseres Zentrums zur Waffe und zum Zentrum unserer PartnerIn. Diese Art zu üben schärft uns das korrekte Gefühl für die Ausrichtung unseres Zentrums relativ zum Zentrum unserer PartnerIn ein und lehrt uns, die Verbindung zum Zentrum unserer PartnerIn zu halten. Langfristig können wir dieses Gefühl und diese Verbindung auf unser Taijutsu übertragen.

Es fördert die Einheit des Körpers. Im Aikido halten wir den Ken und den Jo mit beiden Händen und vereinen so das Ki von beiden Seiten des Körpers und richten es auf unser Ziel. Die beiden Seiten des Körpers stützen einander und arbeiten zusammen, so dass das Gefühl von Einheit und Kreisförmigkeit von rechter und linker Seite erhalten bleibt, selbst wenn wir die Waffen nicht gebrauchen, wie im Taijutsu.

Es fördert die Aufmerksamkeit. Der Gebrauch harter Waffen erhöht die Verletzungsgefahr beim Training. Ein einfacher Fehler im Timing oder Winkel kann zu einer schweren Prellung führen. Das höhere Risiko sorgt dafür, dass die Schülerinnen und Schüler beim Training aufmerksamer sind. Diese Achtsamkeit lässt sich auf das Taijutsu übertragen.

Bukiwaza allein ist kein Aikido

Wie bereits oben erklärt, ist Bukiwaza ein wichtiger Teil des Aikido-Trainings; es vervollständigt das Aikido-Taijutsu, ist für sich allein aber nicht Aikido. Bukiwaza dient dem Aikido, so wie das Üben von Suburi dem Kumitachi dient. Der Nutzen von Bukiwaza zeigt sich in der Qualität des Taijutsu. Bukiwaza an und für sich stellt allein keinen Wert dar; mit anderen Worten: durch das Üben von Aiki-Ken und Aiki-Jo werden wir nicht zu Experten im Umgang mit Schwert und Stab.

Wir sollten diese untergeordnete Beziehung anerkennen, um einordnen zu können, welchen Platz wir Bukiwaza im Aikido-Training einräumen.

Ich möchte ebenfalls klarstellen, dass eine Überbetonung von Bukiwaza dessen Nutzen entgegenstehen kann, hauptsächlich weil uns beim Waffentraining der physische Kontakt zur/m PartnerIn fehlt. Um dies zu verstehen, muss ich auf den letztendlichen Zweck des Aikido-Trainings zu sprechen kommen, den ich in einem anderen Artikel besprochen hatte: Wir trainieren auf der Matte, um von unsere/n PartnerIn eine Rückmeldung über unser eigenes Zentrum zu erhalten, so dass wir daraufhin feststellen können, wer wir sind. Dieses Feedback ist anfangs physisch und ist das Resultat der andauernden Interaktion der Körper auf der Matte. Das bedeutet, dass – wenn wir den körperlichen Kontakt durch die Waffen ersetzen – wir den Umfang und die Qualität dieser Rückmeldung vermindern.

Nur wer die Energie des eigenen Körpers vollends gemeistert hat, kann seine Lehren auch aus der Interaktion der Waffen ziehen, bei minimalem Taijutsu-Training.

Bukiwaza-Trainingsprogramm

Kehren wir zu der Frage zurück, wieviel Bukiwaza-Training optimal ist.

Aufgrund der bisher besprochenen komplexen Zusammenhänge lässt sich schlussfolgern, dass es darauf keine einfache Antwort gibt. Nach meiner Erfahrung sollten die Aikdoka so früh wie möglich mit dem Waffentraining beginnen; wichtig ist hierbei die Zusammensetzung des Trainings. Ich empfehle die folgende Herangehensweise.

In den ersten fünf Jahren (z.B. bis zum Shodan), wenn die Aikidoka sich auf die Grundtechniken konzentrieren (Kihonwaza), sollten sie hauptsächlich Tanren, Suburi und Kata lernen.

Dies Grundlagenarbeit wird die Schülerinnen und Schüler gut auf die nächsten fünf Jahre vorbereiten (Nidan und Sandan), während derer sie Awase und Kumi-Übungen in den Vordergrund rücken.

Sobald sie im Bukiwaza-Curriculum ausreichend geschult sind (Yondan und Godan), können sie sich ernsthaft mit Henka und Riai befassen.

Erfahrene Aikido (Rokudan und höher) können sich dazu entschließen das Taijutsu-Training gezielt zurückzufahren (vielleicht wegen körperlicher Gebrechen wegen höheren Alters) und das Bukiwaza-Training verstärken (welches körperlich leichter ist).

Ich habe noch nichts darüber gesagt, wieviel Zeit wir dem Bukiwaza im Allgemeinen widmen sollten. Die Lehrerinnen und Lehrer eines jeden Dojos sollten das Niveau aller Übenden im Dojo berücksichtigen und daraus ableiten, wie viele Waffenstunden in einer Woche angebracht sind. In unserem Dojo ist das Verhältnis etwa 2:1, d.h. ein Drittel des Unterrichts befasst sich mit Bukiwaza.

Ein Verhältnis von 2:1 wird nicht für jede/n SchülerIn passen, so dass zusätzliches Training notwendig sein kann. In diesem Fall empfehle ich, dass vor oder nach dem Training Suburi oder Kata geübt wird. Es können sich auch kleine Gruppen zusammentun, um ihr Awase, Kumitachi oder Kumijo aufzupolieren.

Bei einer Prüfung oder öffentlichen Demonstration sollte Bukiwaza nicht mehr als ein Viertel der Zeit einnehmen; der Fokus sollte auf Taijutsu liegen. Wir sollten uns merken, dass Bukiwaza nur ein Trainingswerkzeug ist, nicht das Endprodukt. Das Endprodukt lässt sich besser mit Taijutsu demonstrieren.

Ich hoffe, ich habe meinen Leserinnen und Lesern verständlich machen können, dass Aikido ohne Bukiwaza unvollständig wäre, dass Exzellenz im Aikido auch auf Bukiwaza beruht und dass Bukiwaza ein Trainingswerkzeug und kein Selbstzweck ist.

Hoa Newens August 30, 2019

Original-Blog-Artikel: https://aikidodavis.com/blog/why-bukiwaza

Glossar

Awase: Zusammenführung, beschreibt die Einheit einer Bewegung zwischen Angreifer und Werfer.
Bukidori: Entwaffnungstechniken
Bukiwaza: Waffentechniken
Hanmi: die Grundstellung, bei der der vordere Fuß zum Gegner zeigt und der hintere abgewinkelt wird. Die Ferse des hinteren Fußes steht auf der Linie, die vom vorderen Fuß nach hinten zeigt.
Henka: Variationen
Hitoemi: eine ausweichende Stellung, bei der die Hüfte (im Vergleich zu Hanmi) stärker eingedreht ist und der hintere Fuß etwas weiter zurückgezogen.
Kentaijo:  Partnerübungen mit Stab und Schwert
Kihonwaza  Grundtechniken
Kumi: Partnerübungen mit Waffen
Kumijo: Jo-Partnerübungen
Kumitachi: Bokken-Partnerübungen
Riai: die einheitlichen Prinzipien, die im Training mit Bokken, Jo und ohne Waffen gleich sind.
Suburi: Soloübungen mit Waffen
Suburito: Bokken für Suburi-Übungen (meist schwerer als reguläre Bokken)
Taijutsu: Techniken ohne Waffen
Tanren-uchi: Schlagübungen, gegen feste
Sho-, Ni-, San-, Yon-, Go-, Rokudan: Erster, zweiter, dritter, vierter, fünfter, sechster Dan.